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Ich sehe überall Dunkelheit, aber auch einen winzigen Lichtpunkt, der die Hoffnungen der Menschheit markiert.
Prinzessin Irulan:
Gespräche mit Muad'dib
Im Vorführbereich des Arenagewölbes saß Jessica zwischen Alia und Irulan auf einer harten Steinholzbank und sah einer Privatvorstellung barfüßiger Jerwisch-Sprungtänzer zu. Ihre Bewegungen bildeten einen schnellen Wirbel aus den blaugoldenen Kostümen ihres abgelegenen Planeten.
Auf der anderen Seite neben Irulan saß Harah und behielt pflichtschuldig die Zwillingskinder im Auge, die in traditionelle Fremen-Körbe gebettet waren. Obwohl sie erst drei Monate alt waren, schauten der kleine Leto und die kleine Ghanima den Tänzern mit offensichtlichem Gefallen zu. Auch Irulan hatte ein Auge auf Pauls Kinder. Sie war noch immer dabei, ihre Rolle neu zu definieren. Duncan und Gurney waren beide nicht auf Arrakis, sondern verfolgten irgendwo einen Hinweis auf ihrer endlosen Jagd nach Bronso von Ix ...
Die letzten paar Tage hatte Jessica Irulan dabei beobachtet, wie sie mit ihren widersprüchlichen Verpflichtungen rang, um Pauls schwierige Wünsche mit der ebenso unmöglichen Aufgabe in Einklang zu bringen, die Alia ihr abverlangte.
Nach der Sandwurmattacke hatte Alia die heutige Privatvorstellung in der Zitadelle spendiert, um zu zeigen, dass mit dem Imperium alles in bester Ordnung war. »Das Volk hat genug getrauert, und es ist an der Zeit, Gründe zum Feiern zu finden. Die Regierung ist stark, man gedenkt Muad'dibs, und alle Welten werden erblühen.«
Die Bühne bestand aus rauen Fliesensteinen mit der Beschaffenheit von Geröll, doch die Sprungtänzer bewegten sich ohne Fehltritt durch eine erstaunliche Folge von luftigen Überschlägen und Rückwärtsbewegungen, wobei sie mal die Hände und mal die Füße einsetzten.
»Als ich noch ein Mädchen war, ist eine ähnliche Truppe zu einer Aufführung in den Palast meines Vaters gekommen«, sagte Irulan und wischte sich ein Staubkorn vom Schoß des eleganten weißen Kleides. »Mein Vater hat heiße Kohlen über die Tanzfläche verstreut.«
Es fiel Jessica schwer, sich auf den Tanz zu konzentrieren. Sie wedelte eine Fliege fort, die sie umschwirrte. Irgendwie war das Insekt in die riesige Konservatoriumsarena gelangt.
Paul hatte gründlich über sein gefährliches Erbe nachgedacht, über die Risiken, die seine Vergöttlichung mit sich brachte ... aber was hatte er damit dem Namen der Atreides und den Familienangehörigen angetan, die er zurückließ? Seine Schwester Alia war nicht bereit, mitten in einen solchen Sturm der Geschichte gestoßen zu werden, obwohl sie sich größte Mühe gab, all ihren Anhängern und sich selbst zu beweisen, dass sie es ihrem Bruder gleichtun konnte.
Und Jessica war sich bewusst, dass sie auch die kleinen Zwillinge – ihre Enkelkinder – nicht vergessen durfte. Was wäre, wenn Bronso in dem Versuch, die falsche Aura der Heiligkeit zu zerstören, die Pauls Handlungen umgab, noch mehr Gefahren für die beiden heraufbeschwor? Darüber hatte sie bislang nicht nachgedacht.
Ohne die Sprungtänzer zu beachten, beobachtete Jessica, wie sich Irulan gegenüber den Kindern verhielt. Jessica fragte sich, wie viel die Frau wohl durch ihre Bene-Gesserit-Ausbildung und ihren Werdegang am Imperialen Hof von Kaitain über Mutterschaft gelernt hatte. Trotzdem schien sie sich den Kindern jetzt hingebungsvoll zu widmen.
Die Zwillinge und ihr Potenzial warfen so viele Fragen in Jessicas Kopf auf. Wenn Paul der Kwisatz Haderach war, welche Kräfte hatte er dann vielleicht an seine Kinder weitergegeben? Wann würde man erfahren, ob die beiden Kinder Zugriff auf die Weitergehenden Erinnerungen hatten – und wenn, wäre es für sie eine Herausforderung ähnlich wie für Alia? Bereits jetzt legten Leto und Ghanima persönliche Besonderheiten und ein Verhalten an den Tag, mit dem sie ihrem Alter voraus waren. Sie waren die Waisenkinder eines messianischen Imperators, der von Fanatikern umgeben gewesen war. Natürlich konnten aus ihnen keine normalen Kinder werden.
Als die Vorstellung etwas abflaute, beugte sich Jessica zu Alia hinüber und schnitt endlich das Thema an, das ihr seit einer Weile auf der Seele lastete. »Als deine Mutter erinnere ich mich daran, wie schwer es für dich war, in jungen Jahren anders zu sein, ein ungewöhnliches Kind, das man als Außenseiterin behandelt hat, als ... Abscheulichkeit.«
Alia antwortete mit schneidender Stimme. »Meine Andersartigkeit hat mich stark gemacht, und ich hatte Hilfe von meinem großen Bruder.«
»Und von mir. Aber jetzt mache ich mir Sorgen um meine Enkelkinder. Sie brauchen eine besondere Ausbildung.«
»Ich werde Leto und Ghanima behüten und sie unterstützen. Als Kinder Muad'dibs werden sie zu starken Menschen heranwachsen.« Sie warf einen wehmütigen Blick auf die Babys in den Körben. »Dafür werde ich sorgen. Mach dir keine Sorgen um sie, Mutter.«
Die Sprungtänzer liefen vor dem Publikum auf den Händen im Kreis, traten mit den bloßen Füßen aus und riefen Angebereien in ihrer Heimatsprache. Die störende Fliege kehrte zurück und umschwirrte erneut Jessicas Kopf.
»Natürlich mache ich mir Sorgen um sie. Der Hof Muad'dibs ist nicht gerade der sicherste Ort im Imperium. Bei mir auf Caladan wären sie hervorragend geschützt. Ich könnte die Zwillinge in der angestammten Heimat des Hauses Atreides großziehen, weit weg von den Verschwörungen und Intrigen hier auf Arrakis. Du weißt, mit wie vielen Bedrohungen du bereits konfrontiert wurdest. Überlasse sie meiner Fürsorge.«
Alia reagierte überraschend vehement. »Nein, sie bleiben hier! Als Kinder Muad'dibs müssen sie auf dem Wüstenplaneten großgezogen werden und Teil des Wüstenplaneten sein.«
Jessica wahrte eine unnachgiebige Ruhe. »Ich bin ihre Großmutter, und ich habe mehr Zeit übrig als du, um mich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Du bist die Regentin des Imperiums. Caladan ist ein Ort, an dem Leto und Ghanima sorgfältig die nötigen Meditationstechniken lernen können, um die Stimmen in ihrem Geist zu kontrollieren.«
»Die Heimatwelt der Atreides würde sie nur verweichlichen, sie wasserfett und träge machen. Wie oft hat Paul davon gesprochen? Paradiesische Zustände und Annehmlichkeiten lassen einen den Schneid verlieren.« Sie erhob sich halb von ihrem Platz. »Nein, die Zwillinge sind Kinder dieses Planeten, und sie gehören in die Wüste. Ich werde ihre Abreise nicht gestatten.«
Irulan mischte sich ein. »Ich habe bereits geschworen, seine Kinder zu behüten und für sie zu sorgen, als wären sie meine eigenen.« Die Prinzessin blickte von Alia zu Jessica, hin- und hergerissen zwischen den Entscheidungsmöglichkeiten. »Aber Lady Jessica hat auch nicht Unrecht, Alia. Vielleicht könnten Leto und Ghanima abwechselnd auf Caladan und dem Wüstenplaneten leben. Das würde den Kindern eine gewisse Ausgewogenheit und ein Bewusstsein für ihre Geschichte geben.«
»Sie sind auch Atreides ...«, gab Jessica zu bedenken.
»Nein!« Alia schien kurz vor einem Wutausbruch zu stehen, und Irulan zuckte zusammen, obwohl sie sich um Beherrschung bemühte. »Niemand versteht diese Kinder besser als ich. Ich werde die Erste sein, die die gefahrvollen Anzeichen einer Besessenheit erkennt. Ich will nichts mehr davon hören – von keiner von euch beiden.«
Irulan verstummte sofort. Jessica begriff, dass die Prinzessin in jedem Fall hierbleiben würde, Alias Launen ausgeliefert und dazu gezwungen, sich nützlich zu machen und dem Regime ihre Loyalität zu beweisen.
Die Sprungtänzer, die von ihrem prominenten Publikum kaum bemerkt wurden, beendeten ihre Vorstellung und standen in einer Reihe auf den Händen da. Einer nach dem anderen sprangen sie nach rechts auf die Füße, verbeugten sich und flitzten aus dem Raum.
Nachdem die Vorstellung vorbei war und die Diskussion über die Kinder sie weiter beschäftigte, erhob sich Jessica von der Steinholzbank. »Bitte gib meinen persönlichen Dank für die gute Vorstellung weiter. Ich ziehe mich in meine Gemächer zurück, um zu meditieren.« Sie ging eilig davon.
Als Jessica einen sonnigen Steingarten erreichte, summte die hartnäckige Fliege wieder in ihrer Nähe, umtanzte ihr Gesicht und schwirrte dicht an ihrem Ohr. Jessica fragte sich, welche schlecht versiegelte Tür in der abgeschotteten Zitadelle das störende Wüsteninsekt eingelassen hatte. Sie schlug danach, doch die Fliege manövrierte sich noch näher an ihr Gesicht heran.
Erschrocken hörte sie plötzlich eine piepsige Stimme von dem Tier. »Lady Jessica, hier spricht Bronso Vernius. Ich habe eine Aufzeichnung in diesem getarnten Gerät verborgen. Ich brauche Ihre Hilfe – es geht um meine Mutter. Bitte kommen Sie zu einem Geheimtreffen. Hören Sie genau zu.« Das ixianische Insektengerät nannte ihr einen Ort und einen Zeitpunkt in zwei Tagen.
In dem Wissen, dass man sie vielleicht sogar hier beobachtete, ging Jessica weiter. Sie zeigte keine Überraschung, wie geschickt Bronso es angestellt hatte, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Stattdessen legte sie die Hand vor den Mund, als müsste sie husten, und sagte: »Ich verstehe, und ich werde dort sein.«
Die Fliege schoss davon.